Gemischte Quartiere machen Innenstädte wieder lebendig

Alexis Angelis: „Es hat ein Umdenken stattgefunden!"

21.05.2024




Klaus Schmidt
Herr Angelis, zuerst mal meinen Glückwunsch. Mit dem CORE im früheren Kaufhauses Hertie haben Sie bewiesen, dass Innenstädte heute nicht durch den klassischen Handel, sondern vor allem durch interessante Mischnutzungen belebt werden. Warum hält die Politik am Status Quo fest und reicht lieber Betrügern das Händchen, als die sinnlos verbrannten Steuergelder in die Entwicklung der Städte zu investieren? 


Alexis Angelis
So kann man das heute nicht mehr sagen. Tatsächlich hat gerade ein Umdenken stattgefunden. Das lange Festhalten an überkommenden Vorstellungen war sicherlich auch von der Angst um Arbeitsplätze geprägt. Inzwischen ist aber allen Beteiligten klar, dass wir einen Strukturwandel erleben und neue Lösungen für leerstehende Handelsflächen gefunden werden müssen, wenn die Innenstädte attraktiv bleiben sollen.

Wir erfahren das gerade sehr intensiv, weil sich viele Kommunen nach Oldenburg auf den Weg gemacht haben, um sich hier über das CORE zu informieren. Wir hatten gerade die Stadt Hanau hier, Vertreter aus Gütersloh und aus Lübeck, die sich das hier angucken. Da gibt es auf breiter Front eine Neuorientierung in der Politik. 


Klaus Schmidt
Glaubt man dem Spiegel, waren auch die Oldenburger Stadtoberen angesichts der CORE-Planung skeptisch, weil Sie den klassischen Handel in Ihrem Konzept gestrichen hatten. Fehlte der Stadt in der Kaufhaus-Frage der Mut oder einfach der Weitblick?

Alexis Angelis
Vielleicht ist es ganz gut, wenn ich dieses Interview nutze, um zu sagen, dass der Spiegel das Zitat ein bisschen zugespitzt hat. Das muss man der Ordnung halber zur Verteidigung der Oldenburger sagen. Fakt ist, dass wir natürlich mit diesem Konzept für das CORE der Zeit vielleicht voraus waren, weil wir als Fachleute die Phänomene des Strukturwandels schon früher gesehen haben. Das kam für uns nicht wirklich überraschend. Uns war klar, dass die Städte auf diese Veränderung reagieren und neue Nutzungsarten finden müssen.  

In Oldenburg sah der Bebauungsplan beim City Center Oldenburg (CCO), in dem wir das CORE realisiert haben, den Einzelhandel vor. Und weil es den Wunsch gab, keinen Einzelhandel zu verlieren, war eine Änderung der Nutzung kein Selbstläufer. Aber es gab irgendwann auch die Erkenntnis, dass der Rückzug des Einzelhandels strukturbedingt ist. Der Lehrstand war ja schon da. Als wir das Projekt angegangen sind, gab es ja schon zehn Jahre lang Leerstand. Das heißt: Wir sind eigentlich mit einer Lösung für das Dilemma gekommen. An diese Erkenntnis musste man sich erst gewöhnen. Aber die Stadt Oldenburg ist dann diesen Weg auch mitgegangen. 


Klaus Schmidt
Heute werden Sie für das CORE gefeiert, damals war die Planung ein mutiger Schritt. Was war der Auslöser für ein solches Projekt? 

Alexis Angelis
Der Auslöser war ein inhaltlicher Ansatz. Ich war damals gerade in die Stadt zurückgekehrt. Ich bin ja Oldenburger, habe aber lange in Berlin gelebt und war auch in Barcelona und Madrid. und hatte mich an große Städte gewöhnt und sie schätzen gelernt, bevor ich Teil des Büros Angelis & Partner hier in Oldenburg wurde. Schon vorher hatte ich beobachtet, dass sich fast überall die Unternehmen mit den gleichen Dingen beschäftigen, nämlich mit der Frage, wie sie in Konkurrenz zu anderen Großstädten interessante Leute anziehen und sich kreativ und wirtschaftlich gut aufstellen können. Im Netzwerk mit zwei, drei anderen Partner haben wir überlegt, wie wir einen Ort schaffen können, der die Kräfte der Region bündelt.

Dem CORE lag also ein wirtschaftsfördernder Ansatz zugrunde. Es ging darum, die Dinge, die es in Oldenburg gab, sichtbarer und stärker zu machen. Ob es Software-Entwickler sind, Institute der Uni, die Uni selbst oder erfolgreiche Unternehmen wie CEWE Color. Sie alle versuchen, in einer überregionalen Konkurrenz zu bestehen. Diese Kräfte wollten wir bündeln, ihnen gemeinsam eine Bühne geben, die uns als Stadt und Region noch viel sichtbarer macht, die sozusagen einen Job für alle macht. Das war die Idee zum CORE.


Klaus Schmidt
Aber warum gehen Sie für ein solches Projekt als Angelis & Partner selbst ein unternehmerisches Risiko ein? Architekturbüros planen doch in der Regel für einen Auftraggeber.

Alexis Angelis
Wenn wir inhaltlich Themen haben, die uns umtreiben, wenn wir Trends früher erkennen, aber niemand da ist, der sie umsetzen will, dann müssen wir jemanden finden, der diesen Schritt mit uns macht und den Mut aufbringt, einen neuen Weg zu gehen, an den wir dann sehr glauben. Weil das nicht immer klappt, haben wir uns irgendwann mal dazu entschlossen, uns auf eigene Beine zu stellen, um Dinge anzuschieben.


Klaus Schmidt
Es heißt, Sie haben für das ehemalige Hertie-Kaufhaus 17 Millionen Euro bezahlt und einen sicherlich erheblichen Betrag für den Umbau investiert. Solche Summen zahlt auch ein angesehenes Architekturbüro nicht aus der Portokasse. War es schwierig, für ein bis dahin im Nordwesten ja beispielloses Projekt Geldgeber ins Boot zu holen?

Alexis Angelis
lso erstmal: Die Summe, die Sie da nennen, das ist die Summe, die insgesamt in das Projekt geflossen ist. Also der Kaufpreis inklusive der Investition. Das zahlt man bestimmt nicht aus der Portokasse, sondern muss sich Gedanken machen, wie man eine Finanzierung aufstellt. Frank Reiners, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater und mein Partner bei Neu_Fundland hat einen wichtigen Teil zum Konzept beigetragen, indem er eine Struktur entwickelt hat, mit der wir das CORE auch finanziell aufstellen können. Wir haben dann für die Idee geworben und Mitinvestoren gewonnen, die an uns glauben. Da wurde schnell klar, dass diese Idee die Kraft hat, die Immobilie zu tragen. Wir haben sie dann erworben und die Idee umgesetzt. Dafür ist Netzwerk ein wichtiger Punkt. Das Thema an sich war überzeugend, aber hätten wir keine Erfahrungen in solchen Projekten gehabt, dann hätte man uns das möglicherweise trotzdem nicht zugetraut. 


Klaus Schmidt
Inzwischen haben Sie ja nicht nur mit CORE gezeigt, wie Stadtentwicklung geht. Auch das Projekt Drei Höfe, durch das eine brachliegende Fläche zwischen Innenstadt, Stadthafen und Bahnhof zu einem neugestalteten Stadtbaustein wurde, trägt Ihre Handschrift. Hat das CORE die Erweiterung des Architekturbüros Angelis & Partner zum Projektentwickler eingeleitet? 

Alexis Angelis
Nein, das ist schon ein längerer Prozess. Ich habe, wenn man es genau nimmt, schon in Berlin begonnen, ein eigenes Projekt zu entwickeln. Wir haben da gemerkt, dass es gut funktioniert hat, neue Konzepte zu denken. Und haben dann gesehen, dass die Konzepte, die wir auf den Weg bringen, auch in der Praxis funktionieren. Das Quartier am Waffenplatz, in dem wir gerade sitzen, das war auch eine Projektentwicklung. Damas war uns klar, dass sich ein Projekt an dieser Stelle nur rentieren konnte, wenn wir das gesamte Umfeld neu entwickeln. Das ist hier gut gelungen. Das war jedenfalls die Basis für die späteren Dinge wie das CORE und Drei Höfe. Wir haben dann ja irgendwann entschieden, neben dem Architekturbüro die Arbeit, die ein Projekt erfordert, eine professionelle Struktur zu geben und dies interdisziplinär in Neu_Fundland anzusiedeln. Für uns ist das Entwickeln von besonderen Projekten immer mit dem Anspruch verbunden, städtebaulich etwas zu bewirken. Und dann war CORE eines der ersten Kinder, die aus Neu_Fundland hervorgegangen sind. Ein zweites. Kind war eben das HIIVE-Hotel in Drei Höfen. Wir haben inzwischen eine eigene Hotelgruppe aufgebaut. Das kann man natürlich nicht allein machen. Wir haben uns deshalb mit Partnern zusammengetan, mit denen wir das gemeinsam auf die Beine stellen konnten.


Klaus Schmidt
Für das CORE wurden Sie vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Real Estate Award 2023 für das beste realisierte Projekt, „das in vorbildlicher Weise eine soziale und gesellschaftliche Wirkung entfaltet.“ Das von Ihnen umgesetzte Konzept der gemischten Nutzung ist inzwischen ein globaler Mega-Trend. Lässt sich der Fehler, kleine Handwerksbetriebe, Büros und Wohnungen weitgehend zu Gunsten des Handels aus der Stadt zu verbannen, noch reparieren? 

Alexis Angelis
Wir erleben gerade einen radikalen Strukturwandel. Das Positive daran ist, da bin ich ein bisschen Optimist, dass jeder Wandel neue Chancen bietet, weil die alten Rezepte am Ende sind. Wir haben jetzt wieder die Möglichkeit, kleinteilige Lösungen zu realisieren. Früher war die klassische Fläche der Filialisten in der Stadt ein paar tausend Quadratmeter groß. Diese Größenordnung ist heute nicht mehr gefragt. Firmen, die früher auf mindestens 1500 Quadratmeter bestanden, wollen heute nur noch 400 Quadratmeter haben, alles schrumpft zusammen. Damals haben die Kaufhäuser und Filialisten die Kleinen verdrängt. Sie waren die große Macht. Heute sind sie die Opfer, stehen der noch größeren Macht des Internets gegenüber. Aber die hat einen Nachteil: Sie ist unpersönlich, es fehlt das Erlebnis.  

Deshalb müssen wir die Chance nutzen zu einer Erlebnis-Innenstadt. Ich gehe in die Stadt, nicht weil ich etwas brauche, sondern weil ich Zeit verbringen möchte. Deshalb sieht man so viel Gastronomie an Stellen, wo früher Handel war. Das ist die Option, wenn man Läden als Anfass- und Wohlfühlorte denkt. Die Chance liegt in kleineren Einheiten, es wird mehr Vielfalt kommen. Und es ist wichtig, dass die Entwicklung in der Stadt insgesamt kuratiert wird. Das müssen auch die Städte verstehen. Zu einem interessanten Umfeld gehören eben auch Kultur und soziale Interaktionen. Man muss Menschen zusammenbringen, einen Grund schaffen, dass Menschen irgendwo hingehen. Das ist die Chance. Darauf muss man sich konzentrieren.


Klaus Schmidt
Das gibt es aber nicht umsonst ...

Alexis Angelis
Klar, da muss ich als Kommune auch bereit sein, Geld in die Hand zu nehmen, um ein Ökosystem zu schaffen, in der eine Kleinteiligkeit wieder wachsen kann. 


Klaus Schmidt
Als Sie die CORE und Drei Höfe realisierten, zeichnete sich die Kaufhaus-Krise bereits ab. Wenn man heute, nur ein paar Jahre später, den Leerstand in der Oldenburger Innenstadt sieht oder in früheren Vorzeigeprojekten wie der Shopping-Mall Schlosshöfe und aktuell dem Kaufhaus Galeria Kaufhof, dann ist ja vor allem das Tempo der Entwicklung, das Angst macht. Bleibt überhaupt genug Zeit für neue Lösungen oder wird die einseitige Ausrichtung auf den Handel in den letzten 50 Jahren jetzt zum Totengräber der Innenstädte?

Es gibt Spielraum zum Handeln. Vor allem aber gibt es einen hohen Druck, zu handeln. Vermieter werden sich verabschieden müssen von alten Mieterwartungen. Eine Weile hat man sagen können, ich nehme lieber die große Kette als Mieter. Wenn dann 10 Jahre lang nichts passiert, dann muss man sich der Situation stellen und fragen, was mache ich denn jetzt? Dann entsteht wieder Raum für etwas Neues, dann wird die Krise wieder zur Chance. Es wird deutlich, dass die Modelle, die über Jahrzehnte funktionierten, wie etwa Shopping-Malls, jetzt mit großen Lehrständen zu tun haben. Man sieht, dass es Alternativen gibt, dass zum Beispiel viele Städte das Wohnen zurückholen in die Innenstädte, der Handel durch Wohnungen abgelöst wird oder, wie das CORE gezeigt hat, durch andere Nutzungen. Es ist jetzt wohl allen klar, dass wir weg müssen von der einseitigen Ausrichtung auf Handel, der ja, mal ganz ehrlich, so richtig vielfältig die letzten Jahrzehnte auch gar nicht war. 


Klaus Schmidt
Es bei den Mietforderungen ja auch gar nicht sein konnte ...

Alexis Angelis
Genau. Wenn nur noch Handyläden oder Filialisten vertreten sind, dann ist es ja nicht mehr die Innenstadt, die wir uns mit ihrer Vielfalt wünschen. Wenn ich ein buntes Leben will, muss ich an einigen Punkten strategisch Impulse setzen. Dann muss ich sehen, wieviel Unterstützung braucht das, damit sich drumherum Dinge ansiedeln. Das ist beim CORE im Übrigen passiert. Wir haben ja schon mehrere Ansiedlungen von neuen Läden im Umfeld. Wo anderswo Läden zu machen, sind hier neue entstanden. Die kommen dahin, weil hier coole, junge Leute sind, weil hier was passiert. Es wäre gut, wenn die Kommunen solche Impulse fördern.


Klaus Schmidt
Der Handel allein kann die Weichenstellung durch flankierende Maßnahmen nicht mehr schaffen?

Alexis Angelis
Wenn ich mir fünf Paar Schuhe im Internet problemlos zur Auswahl bestellen kann, dann muss ich doch einen Grund haben, in ein Schuhgeschäft zu gehen, das im Zweifel die geringere Auswahl hat. Und trotzdem glaube ich, dass auch der Handel profitiert, wenn ich den Einkauf koppele mit anderen Themen: Das Erlebnis Stadt. Das ist der Faktor!  Ich komme nicht, weil ich in irgendwelchen Billigläden etwas kaufen möchte. Das kann ich viel einfacher im Internet. Ich komme, weil ich in der Stadt einen tollen Tag verbringen möchte, weil ich ein Eis essen gehen möchte, einen schönen Einkaufsbummel machen und vielleicht noch abends ins Theater gehen möchte. Ich erhalte Impulse, werde angeregt, kann etwas kaufen. Wir müssen uns gegenseitig unterstützen und dafür sorgen, dass Leben generiert wird. Wichtig ist, dass Menschen zusammenfinden. Das ist es auch, was wir mit dem CORE, mit der Markthalle, beabsichtigt haben. Wir haben gesagt: Zuerst mal möchten wir Menschen anziehen. Wir geben der Gesellschaft einen Ort, den sie nutzen kann. Nur wenn Menschen da sind, kann überhaupt erst etwas wirtschaftlich Erfolgreiches entstehen. 


Klaus Schmidt
Zum Abschluss zwei Fragen an den Projektentwickler Angelis: Wo sehen Sie dringenden Handlungsbedarf bei der Stadtplanung und welche Wünsche haben Sie an die Politik in Ihrer Heimatstadt Oldenburg, um langfristig eine lebenswertige, lebendige City zu erhalten?

Alexis Angelis
Der Handlungsbedarf besteht vor allem darin, eine übergeordnete Strategie zu haben. Ich glaube in Oldenburg ist es wichtig, wie aber eigentlich in allen Städten, das Profil der Stadt herauszuarbeiten. Aus meiner Sicht haben wir das Potenzial einer Stadt der innovativen Wirtschaft und der Wissenschaft. So wäre es gut, wenn Institute der Unis stärker in die Innenstadt verlegt werden, um gemeinsam mit dem CORE die Stadt zu prägen und lebendig zu machen. Wo viele Menschen zusammentreffen, wo etwas Positives passiert, da gibt es weiteren Aufwind. Solche Entwicklungen müssen Kommunen unterstützen.  

Wenn ich mir vorstelle, hier in der Innenstadt halten sich noch mehr Studenten und junge Leute auf, wird das Stadtbild noch stärker belebt. Davon profitieren die Cafés und die Läden. Wenn sich die Uni vor den Toren der Stadt befindet oder am Rand der Stadt oder noch weiter draußen, dann fehlt dieses Potenzial in der Stadt. Kreative Impulse, wie wir sie gesetzt haben, kommen oft auch aus der kreativen Szene selbst, sie sollten aber von der Wirtschaft unterstützt werden. Eine Kommune muss nicht alles selbst erfinden, aber sie muss unterstützen und sie muss bestehende Initiativen am Leben erhalten. Wichtig sind natürlich auch andere Themen wie Mobilität. Ich wünsche mir, in einer Stadt zu leben, über die anderswo gesagt wird, sie sei innovativ, sie gehe neue Wege und sie sei mutig.


von Klaus Schmidt
Bildrechte Ulf Duda