Das untergegangene Imperium

Aufstieg, Fall und Revitalisierung des Tabakquartiers

07.05.2024

Rund 6000 Menschen arbeiteten einst in Europas größter Tabakfabrik während der Blüte in den 1960er Jahren, doch nach dem Verkauf der Firma Brinkmann folgte der Abstieg. Das riesige Arreal, zwischenzeitlich als Businesspark genutzt mit deutlichen Spuren des Niedergangs, wird derzeit revitalisiert und ist unter  dem Begriff Tabakquartier eines der spannendeste Projekte der Bremer Nachkriegszeit – auch weil Fehler anderer Quartierentwicklungen sich hier nicht wiederholen und die historischen Gebäude dem neuen Lebensraum vieler tausend Menschen ein unverwechselbares Gesicht verleihen. 

Von all dem ist nichts zu spüren, als ich vor rund sechs Jahren das erste Mal das Gelände besuche. Die Berliner Sirius Facilities GmbH verwaltete damals das Objekt, das mehr einer Industriebbrache galt. Mit Wehmut blicke ich damals auf die Hallen, die dem Untergang auf Raten geweiht scheinen. An einigen, wenigen Fenstern der Gebäude an der Ritterstraße 112 verweisen noch kleine Aufkleber mit Tabakblättern auf die frühere Nutzung. Letzte Spuren einer glorreichen Vergangenheit, Zeichen eines untergegangenen Imperiums. Sie symbolisieren das Ende einer bedeutsamen Episode Bremer Industriegeschichte, gestaltet von Hermann und Wolfgang Ritter. Hier in Woltmershausen war einst ihre Tabak- und Zigarettenfabrik beheimatet, die zur größten Fabrik Europas aufstieg. Peer Export, Lord Extra, Schwarzer Krauser – Zigaretten- und Tabakmarken aus Bremen waren international erfolgreich. 


Klaus Schmidt
Auf den Fluren des ehemaligen Tabak-Lagers kann man heute die Geschichte auf großformatigen Bildern nachvollziehen. 

Mehrere Tausend Menschen standen in den 1960er-Jahren bei Brinkmann in Lohn und Brot. Verwaltung, Produktion und Versand arbeiteten auf Hochtouren, um den boomenden Markt zu befriedigen und mit neuen Marken Marktanteile zu erkämpfen. Doch der Abstieg für den Standort Woltmershausen zeichnete sich ein paar Jahre später bereits ab. „Wenn man dabeibleibt und sieht, wie alles zu Ende geht, dann ist das kein Vergnügen“, sagt mir 1997 Hartwig Ripken. Der Verwaltungsfachmann, der heute als Rentner in Wiefelstede lebt, hatte in den 1950er-Jahren als kaufmännischer Angestellter in der Finanzverwaltung bei Brinkmann angefangen. „4500 Mitarbeiter hatten wir damals“, erinnert er sich. Als Ripken 25 Jahre später in den Ruhestand ging, waren in Woltmershausen gerade noch 450 Mitarbeiter beschäftigt. Damals ist er Geschäftsführer der Wolfgang-Ritter-Stiftung, die die Bremer Universitätsgespräche ausrichtet und die Mittel für den jährlich ausgelobten Wolfgang-Ritter-Preis zur Verfügung stellt. Er traf sich damals noch regelmäßig mit Menschen, die wie er lange in Woltmershausen tätig waren.  

Mir zeigt er alte Alben, in denen einer der sogenannten Brinkmänner Bilder und Zeitungsausschnitte über das Unternehmen in den 1920er-Jahren gesammelt hatte. Dabei wird die Erinnerung an seine aktive Zeit wieder lebendig. „Wir hatten bei meinem Eintritt in die Firma einen Marktanteil von fast 25 Prozent bei Zigaretten in Deutschland. Das war ungewöhnlich viel. Ein Ergebnis, das Ripken dem Geschick von Wolfgang Ritter zuschreibt, der schon früh ein Gespür für Marketing gehabt habe. Damals, als es den Begriff so noch gar nicht gab. Wolfgang Ritter und sein Vater Hermann waren herausragende Unternehmerpersönlichkeiten, die beide bereits in jungen Jahren Außergewöhnliches leisteten. 

Herrmann Ritter war gerade 22, als er im Jahr 1900 die Firma Martin Brinkmann kaufte, einen Tabakhandel in der Bremer Innenstadt samt Tabakfabrik in Burgdamm. Ritter siedelte 1910 nach Bremen über. Dort sei er trotz der Unkenrufe einheimischer Kaufleute Großunternehmer geworden, heißt es in einer Gedenkschrift der Wolfgang-Ritter-Stiftung. Es war die Zeit der rasanten Entwicklung in Woltmershausen. Sohn Wolfgang, der als 16-jähriger die Oberrealschule verließ und nach einer Lehre bei Bremens größter Rohtabak-Importfirma ins väterliche Unternehmen wechselte, konnte sich früh beweisen: 1924 schickte ihn sein Vater nach Amerika, um dort alles zu lernen, was es über das Produkt Tabak zu wissen gibt. Und: Der gerade 19 Jahre alte Wolfgang Ritter sollte für 2,4 Millionen Mark die größtmögliche Menge erlesener Sorten direkt bei den Tabakpflanzern kaufen, um so die Spanne der Importfirmen zu sparen. 

Der Sprössling tat, wie ihm geheißen. Das Unternehmen Brinkmann wuchs. Innerhalb von sechs Jahren stieg die Menge des täglich verarbeiteten Tabaks von 3000 auf 80000 Pfund. Brinkmann war auf dem besten Weg, die größte Tabakfabrik des Deutschen Reichs zu werden und wurde 1929 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Hermann Ritter übernahm den Vorsitz im Aufsichtsrat, sein Sohn Wolfgang den Vorstand. Im dritten Reich verlegt er die Verwaltung nach Berlin und während des Krieges zunächst nach Bayern, dann nach Konstanz an den Bodensee. Die Produktionsanlagen, die in Bremen geblieben waren, wurden teilweise zerstört. 

In der Nachkriegszeit nahm Wolfgang Ritter den Wiederaufbau in Angriff. Ohne seinen Vater, der 1949 gestorben war. Und er traf die richtigen Entscheidungen. „Vorbei die Zeit der Orientzigarette im ovalen Format. Mit dem Einzug amerikanischer Truppen kam die Virginia-Zigarette mit ihrem würzigen Duft nach Deutschland“, beschreibt die Broschüre der Wolfgang-Ritter-Stiftung einen Trendwechsel, für den Wolfgang Ritter das richtige Gespür hatte. Seine Marke Texas mit dem Aufdruck „American Blend“ wurde der erhoffte Bestseller und erobert einen Spitzenplatz in Deutschland. 

Und Ritter legte nach: Mit Peer Export kreierte er die erste Deutsche Zigarette, die international erfolgreich ist. Mit Lord Extra lancierte er 1962 die erste und weltweit erfolgreichste nikotinarme Zigarette. Bekannte Gesichter wie der Bergsteiger Louis Trenker warben zudem mit für die Brinkmann Tabake Golden Mixture und Bristol. Die Produktion lief auf Hochtouren. In Bremen musste in drei Schichten rund um die Uhr gearbeitet werden. 1968 war Brinkmann die größte Tabakfabrik Europas und weltweit die Nummer drei.

Aber der Unternehmer sah auch die Zeichen der Zukunft: Der Mittelstand als Motor der Volkswirtschaft stehe als Großbetrieb im Wettbewerb mit kapitalstarken Weltkonzernen. Da sei die Familiengesellschaft von Übel, fand er. Wolfgang Brinkmann handelte: Schrittweise übertrug er von Mitte der 1960er-Jahre bis 1972 Anteile an den südafrikanischen Industriellen Dr. Anton Ruppert, Eigentümer des fünftgrößten Zigarettenkonzerns der Welt. Für den Standort Bremen keine gute Entscheidung. Die Produktion wurde schrittweise verlagert, das Unternehmen durchgereicht. Von 1992 an gehörte es zur Gruppe Rothmans International, später wurde es Bestandteil der British American Tobacco. Ab 2015 produzierte für kurze Zeit der Filterhülsenspezialist GIZEH in einem kleinen Teil des Werkes. Ein Abschied von der Tabak- und Zigarettenproduktion auf Raten. Wolfgang Brinkmann hat das Ende nicht mehr erlebt. Er starb 1993 in der Schweiz. 

Brinkmann hätte seine Freude gehabt an der heutigen Entwicklung des Tabakquartiers. Der weitsichtige Kaufmann war ein Freund der Wissenschaft und der Kultur. Und genau die hat einen hohen Stellenwert auf dem früheren Gelände der Tabakfabrik Brinkmann.


von Klaus Schmidt 

Bildrechte Klaus Schmidt

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