Kultur, Arbeit, Wirtschaft und Wohnen miteinander verbunden

Projektentwickler Burkhard Bojazian über die richtige Mischung im Bremer Tabakquartier

07.05.2024

Klaus Schmidt Die Stadt Bremen hat in den Nachkriegsjahren zahlreiche Quartiere entwickelt. Dabei wurden aus meiner Sicht handwerklich viele Fehler gemacht: Von Tenever und die Vahr, die heute als soziale Brennpunkte gelten, über die Wohnbebauung auf dem Stadtwerder als reine „Schlafstadt,“ zu der es bis heute keine Busverbindung gibt und auch nicht die vorgesehene Fahrradbrücke bis zum Prestige-Projekt Überseestadt. Da muss der Verkehr durch ein Nadelöhr geführt werden und fürs Wohnen scheint mir die Infrastruktur dort eher bescheiden. Machen Sie es mit dem Tabakquartier jetzt besser?

Burkhard Bojazian Ein klares Ja. Das liegt natürlich auch daran, dass viele Erfahrungen aus den vergangenen Jahren in die Bauleitplanung für das Tabakquartier einfließen konnten, sodass die Voraussetzungen für eine interessante Vielfalt geschaffen wurden. Deshalb entsteht hier ein Quartier mit unterschiedlichen Nutzungsformen, das die ganze gesellschaftliche Bandbreite abbildet.
Wir haben hier die Wirtschaft mit Gewerbe, Handwerk und Büros, wir haben die Kultur mit einem Theater, den Bremer Philharmonikern und dem bundesweit einzigartigen Zentrum für Kunst der Stadt Bremen, wir haben den Sport mit Norddeutschlands größter Kletterhalle, einem Fitnessstudio und einem Quartierspark, wir haben die Gastronomie mit diversen Angeboten und natürlich Menschen, die hier wohnen. Wir planen über 1000 Wohneinheiten, von denen schon einige realisiert worden sind. Auch ganzheitlich gedachte Mobilitäts- und Energieversorgungsangebote wurden beim Tabakquartier berücksichtigt. Das, was die Qualität eines Quartiers ausmacht, nämlich eine bunte Mischung, ist hier bestmöglich gelungen.

Klaus Schmidt Die Metamorphose von der Industriebrache in ein lebenswertes Viertel ist schon deutlich sichtbar. Die Kombination alter Produktionshallen mit modernen Wohn- und Büroräumen sieht ja wirklich cool und stylish aus. Das ist der Blick der Erwachsenen. Aber zum Leben gehören auch Kinder. Können die sich hier wohlfühlen?

Burkhard Bojazian Auch dafür haben wir Sorge getragen. Doch lassen Sie mich zuerst den Wohnungsmix erklären. Es gibt einen großen Anteil kleinerer Wohneinheiten, die sich besonders für Singles eignen, es gibt größere Wohneinheiten, die für bis zu drei Personen ausgelegt sind, und es gibt große Wohnungen mit fünf bis sechs Zimmern. Die eignen sich natürlich für Familien mit Kindern. Wieviel Kinder irgendwann tatsächlich hier leben, wird sich noch zeigen. Die werden hier aber alles finden, was sie benötigen.

Einen Kindergarten mit Außenspielfläche gibt es bereits im Quartier. Zudem ist im angrenzenden Bereich des Stadtteils Woltmershausen die Entwicklung des Tabakquartiers bei der Planung einer Schule berücksichtigt und wir haben einen sehr großen Park, eine Freizeitanlage, für die wir einen Architektenwettbewerb ausgeschrieben haben.

Die Anlage zieht sich durch das ganze Quartier und ist als Spielfläche ausgewiesen. Das haben wir alles gemacht, obwohl nach unseren Erfahrungen Familien mit kleinen Kindern meistens ein Häuschen mit Garten bevorzugen und nicht das typische Klientel für dieses Projekt sind. Die ersten bereits fertiggestellten Abschnitte des Quartiersparks werden bereits jetzt gut von den Kindern angenommen. Und auch die Boulderhalle ist ein Anziehungspunkt für Kinder.


Klaus Schmidt Die starke Durchmischung dieses Quartiers mit kulturellen Angeboten war ja eine Herzensangelegenheit Ihres inzwischen verstorbenen Geschäftsführers Joachim Linnemann, der die Entwicklung dieses Quartiers maßgeblich initiierte. Er schwärmte von der „Poesie dieses Ortes“ Fühlen Sie die auch?

Burkhard Bojazian Mein früherer Kollege Joachim Linnemann konnte solche Dinge immer gut formulieren. Die „Poesie des Ortes“ beschreibt wohl ein bisschen das, was reine Neubauquartiere so nicht haben können. Wir finden hier ja eine Substanz vor mit ganz vielen denkmalgeschützten Gebäuden, die wir wieder revitalisieren konnten. Alte Gebäude mit Charme, kombiniert mit stilvollen Neubauten, erzeugen ein ganz eigenes Flair. Das macht auch für mich die Seele eines Quartiers aus. Wenn man das als „Poesie des Ortes“ beschreibt, dann trifft es den Punkt.


Klaus Schmidt Von der Poesie zum Geschäft. Ich weiß nicht, ob Sie die Frage beantworten wollen, aber ich stelle sie trotzdem: Wieviel Geld hat das Unternehmen Grosse für das Gelände bezahlen müssen und wieviel Geld muss es in die Hand nehmen, um dieses Quartier zu realisieren?

Burkhard Bojazian Das ist eine gute Frage (lacht). Ich glaube insgesamt sprechen wir über ein Investitionsvolumen von 600 bis 700 Millionen EUR für das ganze Quartier. Stand heute sind es wohl 200 Millionen EUR, die wir bisher investiert haben.


Klaus Schmidt Weil Sie ja nicht nur investieren, sondern als Unternehmen natürlich auch Geld verdienen wollen, liegt die nächste Frage auf der Hand: Wie teuer werden die Wohnungen und Lofts, die Sie im Tabakquartier anbieten?

Burkhard Bojazian Zum ersten Teil Ihrer Frage: Es ist als Unternehmen natürlich unser Ansatz, Geld zu verdienen, idealerweise mit dem Effekt, damit auch etwas Gutes für die Stadt Bremen zu bewirken und für die Menschen, die sich hier wohlfühlen sollen. Damit das mit dem Geld verdienen klappt, haben wir bei der Vermarktung eine ganze Bandbreite unterschiedlicher Angebote. Die gewerblichen Mieten beginnen bei 8 EUR/m² und können im Neubau, wo hohe energetische Anforderungen bestehen, aber auch bis zu 15 EUR/m² betragen.

Da 30 Prozent der Wohnungen durch die öffentliche Hand gefördert werden, ist in diesen Objekten der Quadratmeterpreis auf 6,80 EUR/m² festgeschrieben. Damit können auch Menschen mit kleinen Einkommen im Tabakquartier wohnen. Im frei finanzierten Wohnungsbau betragen die Mieten bis zu 13 EUR/m². Wir sprechen also auch bei den Wohnungen unterschiedliche gesellschaftliche Schichten an und möchten möglichst vielen Menschen die Möglichkeit geben, hier im Quartier ein Zuhause zu finden. Bei den Kaufpreisen für die Wohnungen liegen wir im guten Marktmittel um die 5000 EUR/m², die Kaufpreise für die Bürolofthäuser beginnen bei 2600 EUR/m².


Klaus Schmidt Das ist objektiv viel Geld, gemessen an anderen Projekten aber fast schon ein Schnäppchen. Neben Investoren ist das sicherlich von allem auch für Menschen eine Überlegung wert, die sich im Alter verkleinern wollen. Was aber ist, wenn Sie später Pflege benötigen und gern bleiben wollen? Gibt es Optionen für Pflegebedürftige, sich hier bei Bedarf unterstützen zu lassen?

Burkhard Bojanzian Alles, was wir heute im Tabakquartier bauen, ist grundsätzlich barrierefrei. Alle Wohnungen sind so konzipiert, dass man sie bis ins hohe Alter nutzen kann. Was die Pflege betrifft, so wird gerade an einem Angebot gearbeitet: Wir freuen uns sehr, dass die Johanniter hier im Quartier ein Haus betreiben wollen. Das bauen wir und damit gibt es bald ein Serviceangebot aus der unmittelbaren Nachbarschaft, auf das ältere Menschen bei Bedarf zurückgreifen können. Wer sich hier wohlfühlt, soll möglichst lange bleiben können.


Bildrechte Justus Grosse

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